Die Vermessung der Seele

Häufig laufe ich durch die Straßen Jenas und fühle irgendwie nichts. Mir geht es nicht schlecht oder habe ein Problem, nein, ich wabere einfach nur abwesend durch diesen Fluss der einströmenden Eindrücke und reduziere diese durch die Abwesenheit meiner Aufmerksamkeit. Das ist normal und kennt wahrscheinlich jeder. Dabei begleitet mich diese Taubheit aber erst seit einer Weile fast ständig durch den arbeitsbedingten Alltag. Sie lässt die Welt unscharf werden, fließt undefiniert an mir vorbei und wird zu einem ereignislosen Brei, bis ich durch einen Rempler, einem Lächeln oder eine Geste irritiert werde. Diese Abwesenheit ist balsam für die Gedanken, kreisen diese doch unentwegt um ToDo-Listen, Arbeit, Termine, wichtige Menschen und alltägliche Aufgaben. Wenn man dann in sich blickt merkt man, dass man sich mal wieder taub und abwesend durch die Welt bewegt. Bin ich das, der da läuft? Ist das mein Charakter, mein „ich“? Dieser verkümmerte Haufen an Talenten und Fähigkeiten? Derjenige, der sich lieber in diesen Fluss der Bewusstlosigkeit hinein begibt?


Doch seit einigen Wochen hat sich das geändert. Es gibt da einen warmen Fleck in mir, der immer größer wird und sich nach und nach entfaltet, wie warmes Wasser das man in die Badewanne einlässt oder wie das Licht welches einströmt, wenn man nach und nach die Rollläden aufzieht. Es durchströmt mein Innerstes mit Glück und Euphorie, mit Zuversicht und Gelassenheit, mit Aufmerksamkeit und Lust zum Detail. Es versprüht wohlduftende Gerüche, feinsinnige Gedanken und richtet meine Aufmerksamkeit auf die Kleinigkeiten des Lebens. Vögel die sich gegenseitig jagen, grinsende Großmütter die über den Fußweg schlendern, kleine Käfer die sich mühsam ihren Weg durch die Wiese schlagen. Songtexte von Liedern, die ich schon tausend Mal gehört habe werden zu fantastischen Arien der Leidenschaft, die Songs verwandeln sich zu Trabanten meines Alltags. Mein ausgetrockneter Geist wird zunehmend revitalisiert und erblüht zu neuem Leben wie regenverhangenes Moos nach einer langen Dürreperiode. Bei all dieser Euphorie wurde mir etwas klar, das wohl die persönlich wichtigste Erkenntnis und das größte Glück darstellt:
Es verdeutlicht mir selbst, wer ich bin und was ich mag. Das ich all jene Details schätze und so sehr umarme, dass ich in der Lage bin, mein Herz für die Schönheit dieser Welt zu öffnen und mich ihrer hinzugeben. Ich merke, welche Werte mich ausmachen, welche Menschen mir etwas bedeuten und wie sehr ich für sie empfinden kann.
All das ist die Summe der Entscheidungen und der Ereignisse meines Lebens, die mich zu dem Punkt führen, an dem ich jetzt stehe. Diese durchflutende Wärme, die diesen manchmal abwesenden Geist und seine verstummten Fähigkeiten durchströmt macht mir bewusst, wie es in meinem Kopf und meinem Herzen aussieht und es bringt mich zum lächeln. Es erdet meine Träumerei im Hier und Jetzt und bejaht mein Selbst in all seinen Facetten.


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